Sophie Calle: Steckbrief zu Kunst und Künstlerin
Kunstprofil Sophie Calles umfangreiches Werk umfasst Fotografien, Installationen und Konzeptkunst. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch das geschriebene Wort und Interviews. Viele ihrer Projekte sind verspielt voyeuristisch. Besonders bekannt ist beispielsweise das Projekt, bei dem sie als Zimmermädchen getarnt in einem Hotel in Venedig die Hinterlassenschaften der Gäste fotografiert. Auf der anderen Seite bringt sie auch immer wieder sich selbst und ihre Biografie in ihr Werk ein. So ließ sie sich selbst von einem Detektiv beschatten und stellte die Ergebnisse ihren Tagebucheinträgen aus dieser Zeit gegenüber. Calles Kunst spielt mit den Übergängen von Realität zu Fiktion, mit Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung und bewegt sich zwischen den drei großen Themen Leben, Liebe und Tod. Prägende Werke (Auswahl)
| Kurzprofil zur Künstlerin Sophie Calle wurde 1953 in Paris geboren. In ihrer Jugend arbeitete sie unter anderem als Barfrau und Stripteasetänzerin. In den 70er Jahren brach sie zu einer Weltreise auf. In dieser Zeit begann sie während eines Kalifornien-Aufenthaltes zu fotografieren. Calle hat nie eine Kunsthochschule besucht. Sie begann ihr erstes Kunstprojekt, indem sie Unbekannten auf der Straße folgte und diese fotografierte. Aus diesem Projekt ergaben sich für sie neue Ideen und Projekte als logische Folge. Heute gehört Sophie Calle zu den wichtigsten und bekanntesten zeitgenössischen französischen Künstlerinnen. Sie lebt in Malakoff bei Paris und in New York. Medien
Galerie in Berlin ARNDT Berlin |
Sophie Calles Werk und Schlüsselthemen
Sophie Calle zählt zu den wichtigsten lebenden Konzeptkünstlerinnen Frankreichs. Seit über 30 Jahren genießt sie internationale Aufmerksamkeit durch ihre Solo- und Gruppenausstellungen und die Teilnahme an Biennalen. Im Jahr 2007 war sie offizielle Repräsentantin von Frankreich auf der Biennale in Venedig.
In ihrem Werk geht es um die Offenlegung von Privatem, um die Verarbeitung von Schmerz und Trauer, um Erinnerungen und Eindrücke, Sichtbarmachen des vermeintlich Unsichtbarem und Verstecktem, um die Grenzen von Wahrheit und Fiktion, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Sophie Calle fotografiert, schreibt und installiert. Sie recherchiert und beobachtet, verfolgt und filmt. In Paul Austers Buch Leviathan gibt es die Figur der Maria, die an Calle angelehnt ist. Über Maria sagt Auster, dass sie schreibt und fotografiert, doch ist sie keine Schriftstellerin und keine Fotografien. Ähnliches meint Calle auch von sich selbst. Um Schriftstellerin zu sein, sei sie zu schlecht. Um wirklich ausgefeilte Fotografien zu bekommen, bittet sie auch schon einmal jemand anderen ihre Ideen in Bilder umzusetzen. Doch sie bleibt stets die, die die Kontrolle hat und Regie führt. Historisch betrachtet ist sie damit ja auch in bester Gesellschaft.
Sophie Calle: Silence, 2012 Wood, metal, black and white photography 36 x 43 x 13 cm / 14 1/4 x 17 x 5 1/4 inches 4 / 5 in English (+ 5 French)
Die künstlerische Entwicklung von Sophie Calle
Bei Calle ergibt sich eine Idee aus der anderen, wie im Spiel. So könnte man ihr erstes Projekt beinahe als Zufall bezeichnen. Nach einer siebenjährigen Reise um die Welt kehrt die junge Sophie Calle in ihre Heimatstadt Paris zurück. Dort weiß sie nichts mit sich anzufangen und beginnt, Menschen in ihren Fotografien festzuhalten. Das daraus ein Kunstprojekt wird, ist wohl nicht zuletzt ihrem Kunst sammelnden Vater zu verdanken, den sie mit diesem Projekt – wie sie sagt – “verführen” wollte. Es gelingt. Der Vater ist beeindruckt. Ihre Detektivarbeit führt Sophie Calle schließlich so weit, dass sie einem Mann bis nach Venedig folgt. Der einzige Ort an den sie ihm nicht folgen kann, ist sein Hotelzimmer. Daraus wird ihre nächste Idee geboren: Ein Projekt, bei dem sie sich als Zimmermädchen anstellen lässt, um Hinterlassenschaften in Hotelzimmern zu dokumentieren. Zum Projekt der Selbstbeobachtung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
Sophie Calle löst mit ihrer Fotografie Faszination und Kritik aus
Sophie Calles erste Arbeiten und Ideen entstehen in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Lange bevor die ersten Bewohner ins Big-Brother-Haus einziehen erlangt sie rasch Aufmerksamkeit mit der Bloßlegung menschlicher Makel im vermeintlich unbeobachteten Moment. Dafür erntet sie nicht nur Lob, sondern auch Beschimpfungen und harsche Kritik. Ihre Arbeit spaltet und provoziert. Der Betrachter ist fasziniert und erschreckt zugleich. Was, wenn sie mir folgt? Als sie das Adressbuch eines Fremden findet, nimmt sie Kontakt zu den darin Verzeichneten auf und bittet sie, etwas über den ihr unbekannten Besitzer zu erzählen. Diese Berichte veröffentlicht sie als eine Art Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung Libération. Doch der Eigentümer des Büchleins lässt dies nicht ungestraft auf sich sitzen, treibt ein Nacktfoto von Calle auf und lässt es in der gleichen Zeitung veröffentlichen. Doch Calle lässt sich von so etwas nicht abschrecken. Sie liebt das Wechselspiel von Kunst und Reaktion, wie sich auch später in ihren Arbeiten mit Paul Auster zeigt. Für sie ist schnell klar, wenn ich andere beobachte, muss ich mir das eben auch zumuten. So lässt sie von ihrer Mutter einen Detektiv anheuern, der sie verfolgt und fotografiert. Seine Aufzeichnungen stellt sie ihre Tagebuchaufzeichnung aus dieser Zeit öffentlich gegenüber.
Kunst als Therapie? Prenez soin de vous
In den folgenden Jahren legt Sophie Calle immer wieder einen vermeintlichen Seelenstriptease hin. Als ihr Freund ganz modern per Email mit ihr Schluss macht, weiß sie nicht, wie sie reagieren soll. Sie fragt eine Freundin um Rat. Dann kommt ihr die Idee, nicht nur eine Frau um Rat zu fragen, sondern über hundert Frauen zu bitte, mit dieser Email umzugehen. Prenez soin de vous (2007) wird geboren. Das Werk ist benannt nach den letzten Worten des Exfreundes in der Email. Calle sucht Frauen nach ihren Berufen aus. Sie sollen die Email nach den Regeln ihrer jeweiligen Profession analysieren. Eine Juristin beurteilt die Mail nach ihrer rechtlichen Grundlage, eine Sprachwissenschaftlerin korrigiert die Mail, eine Psychologin analysiert den Exfreund anhand seiner Worte, eine Tänzerin tanzt, Sängerinnen singen den Text, Yolande Moreau spielt. Calle formt so ihren persönlichen Schmerz in Kunst um, sie lässt in ihrer Sprachlosigkeit andere für sich sprechen. Es geht nun nur noch um das Projekt und sie fürchtet, der Mann könne es sich anders überlegen und sie zurück wollen, das würde alles über den Haufen werfen. Das Projekt hilft Calle über den Schmerz und für einen Moment könnten wir als Zuschauer meinen, Teil zu haben an diesem tiefen Gefühl, es in all seinen Facetten zu erleben. Doch dies bleibt ein Trugbild, denn die wahren Gefühle der Sophie Calle bleiben versteckt hinter den Analysen und Interpretationen von 107 Frauen. Es geht nicht um Calle und auch nicht um den Mann, vielleicht nicht einmal um Trennungsschmerz im Allgemeinen. Es geht um den Text. Dies erleben wir bei Calle immer wieder. Man könnte meinen, sie trägt sich in die Öffentlichkeit, entblößt sich, therapiert sich, doch eigentlich wissen wir nie, wo die Realität aufhört und wo die Fiktion anfängt und so bleibt Calle bestens versteckt hinter dem Feigenblatt ihrer Kunst, die vielleicht nichts anderes als Kunst sein will.
Leben, Liebe, Tod treiben Sophie Calle um
Im Grunde genommen sind es die drei ganz großen Themen die Calle umtreiben: Das Leben, das eigene und das der anderen. Die Liebe, die sie zum Beispiel in einem Film mit ihrem damaligen Mann festhält und der Tod, der sie schon in ihrer Kindheit fasziniert hat, als sie ihr täglicher Schulweg über einen Friedhof führte und sich schon im Frühwerk mit Graves festsetzt. Wie eng diese drei Themen in ihrem Werk auch miteinander verbunden sind wird besonders deutlich in dem Projekt, dass sie zuerst auf der Biennale in Venedig ausstellte.
Calle erhält an ein und demselben Tag eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist die Einladung zur Biennale nach Venedig – die schlechte ist, dass ihrer Mutter nur noch ein Monat zum Leben bleibt. Calle pflegt ihre Mutter zu Hause und sie ist davon besessen, den Moment ihres Todes mitzuerleben, dabei zu sein. Um die letzten Worte oder den letzten Seufzer auch nicht zu verpassen, wenn sie selber schläft oder aus dem Zimmer geht, nimmt sie die letzten Stunden auf. Der Übergang vom Leben zum Tod, das ist es, was sie fasziniert und berührt. Für die Mutter ist die Kamera in ihrem Sterbezimmer wie der freundliche Geist ihrer Tochter, ihr verlängerter Arm. Calle zählt nun nicht mehr die Minuten, die ihrer Mutter bleiben, sie zählt die Tapes, die sie aufnimmt. Letztendlich ist Calle bei den letzten Atemzügen ihrer Mutter anwesend. Doch den genauen Zeitpunkt vom Übergang des Lebens in den Tod vermag sie nicht zu bestimmen. Pas pu saisir la mort heißt die kleine Installation, die Calle auf der Biennale in Venedig ausstellt. Auf diese Weise ist ihre Mutter, die sehr bedauerte, nicht bei diesem Karriereschritt der Tochter dabei sein zu können doch anwesend und dies sogar in entscheidender Rolle. Der Mutter hätte dies sicher gefallen, sie mochte es, wenn die Leute über sie redeten und
Sophie Calle war und ist ihrer Zeit voraus
Eine großartige Sache an Sophie Calle ist, dass sie mit ihrer Arbeit schon in ihren frühen Werken vieles vorweg genommen hat, was heute als brandaktuell gelten mag. Hat sie doch immer wieder kontrolliert Ausschnitte aus ihrem Leben preisgegeben und so mit dem Verschwimmen der Grenzen von Fiktion und Realität von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung von beobachten und beobachtet werden gespielt. Und das alles, bevor Debatten um Datenschutz heftig in den Medien und an den Stammtischen diskutiert wurden und bevor die ersten Facebook Profile angelegt wurden und wir mit gezielt platzierten Likes und Bildern an unserem Image bastelten, Fiktion und Realität vermischten und mit dem heimlichen Verfolgen von Profilen mehr oder weniger bekannter Menschen alle ein bisschen Sophie Calle wurden. Sophie Calles eigenes Facebook Profil, das natürlich nicht von ihr selbst stammt, kann vor dem Hintergrund ihrer Arbeiten nur unspektakulär wirken. Dennoch kommt man nicht umhin sich zu fragen, ob die Künstlerin nicht ab und an unter falschem Namen einen Blick auf ihr eigenes Profil wirft und einen Kommentar beisteuert, denn es würde nicht verwundern, wenn sie auch heute noch einen Schritt voraus wäre. Und wir können uns mit ihrer Kunst die Frage stellen: wie Gläsern ist der gläserne Mensch wirklich? Wenn sogar intimste Momente, wie der Übergang vom Leben zum Tod festgehalten und öffentlich gemacht werden, wissen wir dennoch nicht, was in dem Kopf dahinter vor sich geht.
Kurze Biographie
Wer eine Biographie von Sophie Calle schreiben möchte, wird sich zunächst freuen, hat sie doch freiwillig so viel über sich offen gelegt. Doch Offensive kann auch eine Form der Verteidigung sein. Man meint sie zu kennen, diese 1953 in Paris geborene, zierliche Französin, die sich in ihrem Werk immer wieder auch selbst zu offenbaren scheint. Doch sind dies nur von ihr gewählte und kontrollierte Eckpunkte ihrer Biografie, die letztendlich im Kunstwerk aufgehen und so die Grenzen von Fiktion und Realität von echtem Gefühl und konstruiertem Schmerz verschwimmen lassen. Mit klaren Fakten und Daten zu ihrer Biografie geizt die Grande Dame der Konzeptkunst.
Die wenigen Dinge, die sich hier festhalten lassen, sind, dass sie als Tochter eines Kunsthändlers geboren wurde. Hier muss sie also bereits mit der Kunstwelt in Kontakt gekommen sein und mit der ersten Arbeit wollte sie nicht zuletzt den kunstliebenden Vater beeindrucken. Ein reguläres Kunststudium hat sie dennoch nie absolviert. Nach Abschluss der Schule ging sie zunächst auf eine Weltreise, während der sie unter anderem als Barfrau und Hundedompteuse arbeitete, aber auch das Medium der Fotografie für sich entdeckte. 1979 kehrte sie nach Paris zurück. Von diesem Zeitpunkt an machte sie mit ihren spielerischen und voyeuristischen Kunstaktionen auf sich aufmerksam und erlangte schnell internationale Aufmerksamkeit.
Ausgewählte Einzelausstellungen ab 2000
2014
- Take Care of Yourself, Museo de Arte Contemporaneo de Monterrey, Mexico
- Cuídese mucho, Museuo Tamayo, Mexico
- Cuídese mucho, MARCO Museo de Arte Contemporaneo de Monterrey, Mexico
- Rachel, Monique, Episcopal Church of the Heavenly Rest, NY, USA
- Voir la mer, Eglise Notre-Dame-de-l’Assomption, Valloire, France
2013 Last Seen, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, MA
2012 Shanghai Biennale, 2012, Shanghai, China
2011 Sophie Calle Room, The Lowell Hotel, New York, USA
2010 True Stories, Hasselblad Foundation, Göteborg, Sweden
2009
- Earth: Art of changing World, Royal Academy of Arts, London, UK
- The Address Book, Gemini G.E.L. at Joni Moisant Weyl, New York, USA
- Where and When?, Arndt & Partner, Berlin
2008
- Où est quand?, Galerie Emmanuel Perrotin, Paris, France
- Prenez soin de vous/ Take Care of Yourself, Curated by Daniel Buren, Bibliothèque Nationale de France, Paris, France
2007 Prenez soin de vous/ Take Care of Yourself, Curated by Daniel Buren, French Pavillon, 52nd Venice Biennial, Venice
2006 True Stories, Galerie Emmanuel Perrotin, Miami, FL, USA
2005
- Exquisite pain, Paula Cooper Gallery, New York, USA, USA
- Works from 1983 – 2003, Galerie Arndt & Partner, Zürich
2004 M’as-tu vue? Did you see me?, Irish Museum of Modern Art, Dublin / Martin-Gropius-Bau
2003 Dommages Collatéraux, Galerie Emmanuel Perrotin, Paris, France
2002 Pour faire le portrait d’un oiseau…, Musée d’Art et d’Histoire de Provence, Grasse
2001 Vingt ans après, Galerie Emmanuel Perrotin (30 rue Louise Weiss), Paris, France
2000 Die wahren Geschichten der Sophie Calle, Museum Fridericianum, Kassel; Haus der Kunst, München, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Musée d’Art Moderne de Buenos Aires
1999 Double Game, Camden Arts Center, London, UK
De l’obéissance, Arndt & Partner, Berlin
1998 The Birthday Ceremony, Tate Gallery, London, UK
1997 Suite Venetienne, White Cube, London, UK
1996 True Stories, Tel Aviv Museum of Art, Tel Aviv
1995
- Proof, University Art Museum, University of California, Santa Barbara/Cleveland Center for Contemporary Art, Cleveland, David Winton Bell Gallery, Brown University, Providence, USA, High Museum of Art, Atlanta, Georgia, USA
- Les Tombes, Galerie Arndt & Partner, Berlin
1994 Absence, Museum Boymans-van-Beuningen, Rotterdam / Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne, Lausanne,
1993 Blind Color, Leo Castelli Gallery, New York, USA
1992 The Graves, Mills College Art Gallery, Oakland, USA
1990 Institute of Contemporary Art, Boston
1985 A.P.A.C., Nevers
1984 Espace Formi, Nimes
1983 Galerie Chantal Crousel, Paris, France
1981 Canon Photo Gallery, Genf
Text: Michaela Gross für ARTberlin