Tomás Saraceno – Spinnen als Baumeister für Netzwerke
Gut, ich gebe zu, für Menschen mit Spinnen-Phobie ist ein Besuch bei Tomás Saraceno eine Mutprobe. Die possierlichen Tierchen wohnen zu Dutzenden in offenen Boxen im Atelier des Künstlers hinter dem Hamburger Bahnhof und gehen ihrem Kern-Geschäft nach: sie weben Netze. Während sich meine gesträubten Nackenhaare langsam legen, lausche ich mit wachsender Faszination Saracenos Worten
Spinnen sind fast ausschliesslich Einzelkämpfer, aber es gibt auch einige wenige Arten, die als halb-soziale Wesen oder sogar in Gruppen leben. Es interessiert mich zu sehen, was passiert, wenn man eine Spinne in das Netz einer anderen Art setzt. Werden sie am Netz weiterbauen, etwas Neues schaffen, das es bisher nicht gab?
Nun ist ein Spinnennetz ja auch ein Sinnbild für Grösseres. Unsere Gesellschaft spricht ständig von Netzwerken, persönliche Netzwerke, soziale Netzwerke, Nervensysteme, auch das ökologische Gleichgewicht, die Globalisierung, ja das Universum sind letzten Endes Netzwerke. Wie halten diese Netze zusammen, wie entwickeln sie sich weiter? Haben sie ein Inneres, ein Zentrum, oder besteht ihr Wesen gerade darin, dass sie nur Verbindungs-Punkte und –Linien bilden? Was heisst das für die Natur? Für die menschliche Gesellschaft? All das geht mir durch den Kopf, als ich Tomàs Saracenos Spinnen-Häuschen betrachte – erstaunlich, erweckten die Tiere in mir doch bisher einen sofortigen Fluchtinstinkt. Tomás Saraceno hat die ganze Zeit gegrinst – der Blick in die Gesichter seiner Besucher macht ihm offensichtlich Spass
Es gefällt mir, zu sehen, wie die Leute reagieren, was sie sich vorstellen…
Tomás Saraceno – Solar Bell auf der abc in Berlin
Das Atelier ist mit Kisten, Regalen, Tischen und Modellen vollgestopft, es wird emsig gearbeitet, alle machen konzentrierte und zufriedene Gesichter, Tomás Saraceno flitzt durch die Halle wie ein Junge in einem überdimensionalen Spielzimmer. Er zeigt uns das Modell eines „Solar Bell“. Eine vierseitige Pyramide, zwischen den Streben mit extrem dünner Solar-Folie bestückt. An der Universität Delft, am Institut für Raumfahrt-Forschung, hat er mit den dortigen Ingenieuren zusammengearbeitet. Der Solar Bell ist letztlich eine Art Drachen, der mit Hilfe des Windes fliegen soll, in den Zwischenräumen könnten sich Menschen aufhalten. Die Galerie Esther Schipper wird auf der abc ein 6 Meter hohes Modell zeigen. Geplant ist, einen 60 Meter hohen Solar Bell zu bauen, erste Flugversuche mit einem kleineren Drachen hat es bereits in Holland gegeben. Die Idee der Flying Cities, der Cloud Cities interessiert Tomás Saraceno schon seit langem – immerhin hat er auch Architektur studiert.
Tomás Saraceno, Solar Bell at Portscapes 2, Rotterdam 2013. Photography by Studio Tomás Saraceno © 2013
Tomás Saraceno – Cloud Cities als Modellstadt der Zukunft?
Im Hamburger Bahnhof war 2011 eine solche Installation zu sehen, in Form von grossen, begehbaren Plastikkugeln. Wohn-Quallen, die durch die Lüfte wabern, bewohnte Wolken, deren Motiv an alte Meister erinnert, Gebilde wie überdimensionale Bläschen von Froscheiern, Kokons, in denen man Geborgenheit findet. Zurückgezogenheit und gleichzeitig Verbundenheit zum Nachbarn über die beweglichen Aussenhäute der Behausung. Schon wieder rattert das Kopfkino… wie leben wir eigentlich zusammen, wie stabil oder fragil ist unsere Umwelt, unsere Gesellschaft, unser Inneres? Ich beginne zu begreifen, dass die Arbeiten von Tomás Saraceno bei aller Verspieltheit und äusserer Ästhetik einen beachtlichen intellektuellen Überbau haben und sie berühren im Inneren.
P.S. Die Spinne hat im fremden Netz begonnen, ihre eigenen, neuen Fäden zu ziehen. Tomás Saraceno freut sich mit geradezu kindlicher Begeisterung und wir uns mit ihm.
P.P.S. Hinter uns warteten sozusagen schon die Möbelpacker, die Tage der Atelier-Halle am Heidestrassen-Komplex sind gezählt. Hoffentlich überstehen die Spinnen den Umzug!
Fotos: Matias Sauter