SVEN MARQUARDT: ES GIBT KEINEN TAG OHNE FOTOGRAFIE
Seelenkamerad – 13 Monde – In Grenzen frei – Übergangsgesellschaft betitelt der Mann seine Ausstellungen zu analoger (meist) Schwarz-Weiß-Fotografie, die mythisch und mystisch anmutende Gestalten in inszenierten melancholischen Posen zeigt. Manchmal wachsen ihnen Ziegenleiber von der Hüfte abwärts (Satyrn), ein anderes Mal begleiten ihre Blicke die Nachtmenschen im Treppenhaus des Berghains auf ihrem Weg zur Tanzfläche (Rudel. Projekt Türsteher, 2012 und Rudel. Projekt Musiker, 2013).
Rudel 2013 muss jetzt leider ab. Die Gäste haben ein bisschen zu viel nach koloriert.
Man kennt Sven Marquardt.
Als Türmacher vom Berghain hat er in Berlin und in der internationalen Clubszene Kultstatus erreicht. Zu markant ist seine Erscheinung mit den vielen Tatoos und Piercings, die sein Gesicht unverwechselbar machen. Zu wichtig ist sein Urteil, das über eine Nacht oder einen Tag voll magischer Momente in der Panoramabar entscheidet.
Man kennt Sven Marquardt.
Als Künstler fotografiert er seit 30 Jahren – erst Mode für die Avantgarde der ostdeutschen Magazine (u.a. für die Sibylle) – dann und immer wieder DDR Subkultur und nach der Wende immer wieder und unter anderem die Protagonisten im Berghain: Musiker, Türsteher, Barleute. Dunkel, schön, ehrlich sind seine Inszenierungen.
Für sein Auge und Gefühl für mystische Ästhetik hoch geschätzt in Ostdeutschland, bringt ihm der Fall der Mauer erstmal wenig Erfolg im Westen. Zu befremdlich sind seine Motive für die Sehnsucht der Zeit damals, vielleicht auch zu melancholisch ungeschminkt. Er taucht ins Nachtleben ein, macht die Tür im Ostgut, dann im Berghain und beginnt 2003 wieder zu fotografieren. Meistens Portraits, oft an Orten in Berlin, die zwischen der Zeit liegen: Friedhöfe zum Beispiel.
Seine Kunstfotografie findet ihren Weg in Galerien, Museen und Clubs: oft in Berlin, und aktuell, angefragt vom Goethe Institut, u.a. in Tel Aviv und Lyon. Daneben fertigt er Auftragsarbeiten an – für Sammler und Marken. Es gibt keinen Tag ohne Fotografie mehr.
In Stockholm habe ich meine Portraits auf die Wände eines Clubs „tapeziert“. Als Wallpaper, das wie von der Wand aufgesaugt wirkt. Ich schätze es, dass meine Kunst keine Ausstellungshemmschwelle für Menschen besitzt, die nicht unbedingt in Galerien gehen.
Es gibt keinen Schritt im Fotografie-Prozess, den er dabei aus der Hand geben mag. Auch die Abzüge fertigt er selbst an. Nur um die Bookings kümmert sich seine Agentur OSTGUT, die eigentlich Musiker vertritt. Sven ist der einzige Fotograf unter ihnen. Zusammen gefunden haben sie, nachdem Sven alle Musiker der Agentur durch fotografiert hatte.
Ich fotografiere, wenn möglich, mit natürlichem Licht, kein Blitz, dafür mit einem hoch empfindlichen Film, von dem es leider nur noch 150 Stück gibt. Das macht mich ein bisschen traurig.
Als wir ihm in der zugigen HALLE AM BERGHAIN einem ehemaligen Schlackekeller in dem manchmal das Staatsballett tanzt, gegenüber stehen, treffen wir weder auf den Türsteher, noch den Künstler. Sven Marquardt ist einfach er selbst. Und zwar ein intensiv ehrliches Selbst.
INTERVIEW MIT SVEN MARQUARDT
Sven, was war dein erster Gedanke heute Morgen beim Aufwachen?
Mir ist tatsächlich sofort eingefallen, dass ich noch eine Email an meinen Verleger schreiben muss, um meinen dritten Bildband „Wild verschlossen“ auf den Weg zu bringen. Und das sage ich jetzt nicht aus Promo-Gründen.
Du bewegst dich zwischen Grenzen, Welten und Szenen – wirkst wie ein Beobachter, der seine eigene Welt lebt und doch Teil ist von den anderen. Welche Rolle spielt der klassische Kunstmarkt für dich?
Meine Arbeiten landen dort, aber es fühlt sich fast so an, als ob ich etwas produziere, was zufällig dort hin passt. In der Kunstszene allein, könnte ich nicht leben.
Das heißt du arbeitest auch nicht gezielt mit Galerien zusammen?
Ich hatte mal eine Galerie in der Schweiz und habe u.a. mit Camera Works für eine Ausstellung zusammen gearbeitet. Aber ich bin ganz glücklich wo ich gerade bin, fühle mich frei, was für mich so wichtig ist.
Machst du dir Sorgen um später?
Ja, manchmal um die Zeit, die weiter läuft.
Auf deinem Tumblr Blog zeigst du Fotos, die einen Mix aus Schmerz, Schönheit und Verletzbarkeit ausdrücken. Was zieht dich daran an? Was stößt dich ab?
Ich finde es reizvoll, dass in jedem von uns, ein Stück von all dem ist. Ich mag Gegensätze, Gegenwelten, die ja auch immer da sind.
Was mich abstößt ist, wenn jemand unfreiwillig zum Opfer von Gewalt wird.
Wie wählst du deine Portraitierten aus?
Ich treffe sie. Ich sehe eine Rolle, einen Charakter in ihnen, der mich fasziniert. Im besten Fall wird er oder sie mit der inszenierten Rolle eins. Zum Beispiel hat mich meine Tätowiererin Yvonne zur Serie „Satyrn“ inspiriert. Sie trägt eine Tatoozeichnung, die eine Frau aus der Renaissancezeit und Ziegenbeinen zeigt. (Satyrn war Teil der Ausstellung ALLE in der Halle am Berghain. Anmerkung der Redaktion).
Manchmal kommt mir auch erst nach Jahren die Idee, jemanden zu fotografieren. Gerade habe ich einen der Berghain Mitarbeiter fotografiert, den ich schon lange kennen, aber erst jetzt hat es klick gemacht.
Wie gehst du an ein Shooting heran?
Ich plane nicht, sondern mach einfach mein Ding. Dieses im Vorfeld schon Überlegen – das entspricht mir nicht.
SVEN MARQUARDT ÜBER ERFÜLLUNGSMOMENTE UND UNFREIHEIT
Was waren für dich bisher Erfüllungsmomente in deinem Leben?
Zu meiner Ostberlin-Zeit habe ich oft davon geträumt, dass ich mit meiner Fotografie ins Ausland, z.B. nach Paris eingeladen werde. 25 Jahre später ist es dann wirklich passiert. Ich stehe in Tel Aviv und denke: Wow, jetzt bist du da angekommen.
Verreist du denn gerne?
Ja und nein. Wenn ich an einen neuen Ort komme, braucht es eine Weile bis ich meinen Radius erweitere. In Tel Aviv habe ich die Stadt Stück für Stück, fast katermäßig erkundet. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie sich 27 Jahre Unfreiheit auf dieses Verhalten auswirken.
Was ist Unfreiheit für dich?
Eingeengt sein, keine Zugänge zu haben. Das will ich aufsprengen.
Fotos: Graeme Vaughan
FILM PORTRAIT ÜBER SVEN MARQUARDT
ENtr berlin hat einen sehr schönen Film über Sven Marquardt gedreht, der in bei der Vorbereitung seiner Ausstellung begleitet. Enjoy
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ÜBER DEN KÜNSTLER
Sven Marquard (*1962) in Berlin Prenzlauer Berg geboren, ist seinem Kiez treu geblieben, wohnt dort heute noch. Nach seiner Ausbildung 1982 als Fotograf und Kameramann bei der DEFA in der DDR arbeitete er in Ostberlin als Fotograf. Seine ersten Veröffentlichungen hat er im Der Sonntag und Das Magazin. Seine Themen: Subkultur, seine Auftraggeber u.a. die bekannte Modezeitschrift „Sibylle“. Von 1985 bis 1986 war Sven Marquardt Assistent bei Rudolf Schäfer, einer Ikone der DDR-Fotoszene. Nach Unterbrechung, fotografiert er seit 2003 wieder, stellt international aus und hat inzwischen drei Fotobände veröffentlicht.
Seine Webpage: Marquardt Fotografie
AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
- 2007 „13 Monde“ im Berghain in Zusammenarbeit mit Viron Erol Vert || Berlin
- 2012 „Rudel“ – Projekt Türsteher, Treppenhaus der Panorama Bar || Berlin
- 2013 „Portraits“, Gallery 2:35.1, Berns Hotel || Stockholm
- 2013 „Rudel II“- Musikerportraits, Treppenhaus der Panorama Bar || Berlin
- 2013 Marquardt-Fotografien, Hive Club || Zürich, Schweiz
- 2013 Sven Marquardt, Galerie Erdmann Contemporary || Aarau, Schweiz
- 2013 „Fotografien“, The Block || Tel Aviv, Israel (in Kooperation mit dem Goethe Institut)
- 2009 „Allerheiligen“, Stadtbad || Leipzig
- 2011 „…off the beaten tracks“, Neonchocolate Gallery || Berlin
- 2012 „Genius loci“, Palazzo Saluzzo Paesana || Turin
- 2012 „Geschlossene Gesellschaft“, Berlinische Galerie || Berlin
- 2013 „My Icon“, Galerie Neurotitan im Haus Schwarzenberg || Berlin
- 2010 zukünftig vergangen, Fotografien 1984–2009: Mitteldeutscher Verlag
- 2011 Heiland: Mitteldeutscher Verlag
- 2012 zukünftig vergangen | future’s past – fotografien | photographs 1984–2012: Mitteldeutscher Verlag