Larry Clark: Der Regisseur von Kids
Wir waren irritiert. Wie aus dem Nest gefallen. Unsere schöne beschauliche Journalistenwelt, in der wir rational agierten, geistig argumentierten – diese Welt wankte. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. So saßen wir einfach noch ein bisschen beeinander, es war Nachmittag, mittelwarm, in Hamburg. Wir hatten Kids gesehen. In der Pressevorführung. Über Larry Clark, den Regisseur, wussten wir nur, dass er auch Videoclips machte. Es ging um Skateboard, um Sex, um Jugend. Um ein In-den-Tag-leben ohne Plan. Um Aids. Um Gedankenlosigkeit und Gefahr. Um Exzess und Unschuld. Die Direktheit, mit der Clark all dies zeigte, traf uns unvorbereitet. Die Nähe zu den Figuren war schmerzhaft. „Teilnehmende Beobachtung“ nennt man den Terminus in der Soziologie, bei Kids (1995) sieht man das Reinkultur. Larry Clark war mittendrin. Er lebte mit den Kids, hing mit ihnen rum, das Filmen war ein Teil des Sprechens mit ihnen, eine Innenschau, zufällig gebannt in Bilder.
Foto: Larry Clark, „Dead“, 1970, aus der Serie „Tulsa“, © Courtesy of Larry Clark, Luhring Augustine, New York, Simon Lee Gallery, London
Larry Clark: Sein Kultbuch Tulsa war ein Schock
Genauso war es bei Tulsa gewesen. Tulsa ist ein Buch. Tulsa ist eine Fotoserie. Tulsa ist auch die Heimatstadt von Larry Clark. Tulsa liegt in Oklahoma, USA. Dort wurde Larry Clark 1943 geboren. Anfang der 1960er studierte er Fotografie in Wisconsin, war dann Soldat im Vietnamkrieg. Zurück in Tulsa fotografierte er seine Freunde. In schwarz-weiß. Eher nebenbei. Er verbrachte halt Zeit mit ihnen. Sah, wie sie Sex hatten. Sah, wie sie Drogen nahmen. Sah, wie sie miteinander herumalberten, sich gegenseitig bedrohten oder sich halfen, die Spritze zu setzen. Im Bett, in der Badewanne. Meist sind sie nackt, der Penis errigiert oder auch nicht, manchmal sieht man nur den erhobenen Arm und die Kanüle mit dem Heroin, auf einem Bild eine Schwangere. Und: Pistolen. Schießen, Sterben, das High, der Kick. Der Tod ist immer da. Viele der Protagonisten auf den Bildern leben heute nicht mehr.
Once the needle goes in, it never comes out,
schrieb Larry Clark vorn in das Buch. Das Foto mit dem Titel Dead ist das Covermotiv. Sehr lässig, nicht als Bedrohung, aber mit sarkastischem Ernst hält der Junge die silbern glänzende Pistole mit der Mündung in die Höhe. Er hockt auf einem ungemachten Bett, der linke Arm umfasst ein Bein, er trägt eine dunkle Stoffhose und Strümpfe. Der Blick ist nach links gerichtet, ein leichtes Stirnrunzeln, die Haare in lockerer Rock’n’Roll-Manier nach hinten gestylt. Der Finger ist am Abzug. Es ist ein weiches Licht, das auf dem freien Oberkörper liegt, beinahe schmeichelnd, die helle Wand, die weißen Laken, alles verbindet sich zu einem fließenden Gefühl. Wie auf Wolken gebettet. Der einzige Kontrast ist das Metallene der Pistole, der Glanz gegen die Haut: Der Fokus liegt klar auf der Waffe. 1971, als das Buch Tulsa erschien, im Verlag des Fotografen Ralph Gibson, war es ein Schock. Schnell vergriffen wurde es mehrfach nachgedruckt, noch immer kursieren Exemplare, ein Liebhaberstück.
Foto: Larry Clark bei C/O Berlin, 25. Mai 2012 © Nadine Barth
Larry Clark: Sein Auftritt zur Eröffnung bei C/O Berlin
Ich nahm das Bild Dead zum ersten Mal bewusst wahr, als es im Rahmen der Ausstellung Wanted in der Helmut Newton Foundation ausgestellt wurde. 2007 war das. Larry Clark war auch da, ein bärtiger, hagerer Typ, dem der Rummel um seine Person schnell zu viel wurde. Auch bei C/O Berlin jetzt letzte Woche huscht er bei der Eröffnung eher durch die Menge, als dass er sich feiern lässt. Nach den Reden zieht er sich in die Bibliothek zurück, blättert in Fotobüchern, trinkt Prosecco, knabbert ab und zu an einem Hühnerspieß. An dem kleinen Finger seiner linken Hand trägt er einen Ring mit Totenköpfen. Die Massen auf dem Hof, die Ausgelassenheit, die warme Abendluft – es interessiert ihn nicht. Er kennt das. Er ist hier, sie sind da, dazwischen eine Welt. Tulsa ist zum Synonym geworden für die Überwindung dieser Distanz. Zum Abgesang auf eine objektive Fotografie. Und als ein Denkmal für die Nähe zum Tod. Für das Überschreiten von Grenzen. Für das Intensiv-Leben-Wollen und das Nicht-Mehr-Leben-Wollen.
(Marc, dies ist für Dich. Du warst damals dabei, als wir „Kids“ sahen.)
Nadine Barth stellt jede Woche eine Arbeit von ausgewählten Fotografie-Ikonen vor. In der Serie bereits erschienen sind u.a. Künstler wie Arnold Newman, Dorothea Lange, Stephen Shore, Hiroshi Sugimoto, F.C. Gundlach, Andreas Feininger und Philip-Lorca di Corcia.