Modefotografie, sagt man, bildet den Zeitgeist ab. Sie spiegelt gesellschaftliche Strömungen, weil es um die Darstellung eines Trends geht, und der Trend das Jetzt in das Morgen überführt. Wir schauen ein Modefoto an und wissen oft sofort, aus welcher Zeit es stammt, fast auf das Jahr genau.
Dennoch gibt es einige Bilder, die außerhalb jeglicher Zuordnungsmechanismen stehen. Die über allem schweben. Nicht greifbar sind. So eines ist das rote Kreuz von Erwin Blumenfeld.
Erwin Blumenfeld: The Red Cross, Vogue, March 1945, ©The Estate of Erwin Blumenfeld, courtesy of C/O Berlin
Nur schemenhaft erkennt man die Figur einer Frau, sie ist schlank, sie trägt etwas Schwarzes, ein Kleid vermutlich, weiße Handschuhe, einen türkisfarbenen Hut. Der Körper ist leicht zur Seite geneigt, die Hände erhoben, wie zur Mahnung oder zum Schutz, es ist ein sanftes Sich-Wiegen, eine zärtliche Geste, die dominiert wird von einem das ganze Bild einnehmenden roten Kreuz. Zwei breite Balken, die sich treffen, an der Schnittstelle ist es dunkler, wie übereinander gepinntes Klebeband, eine Markierung, die mit der Mitte des Körpers zusammenfällt. Ein Modefoto? Wirklich? Nicht eher ein experimentelles Standbild eines Videos?
Cover der amerikanischen Vogue vom 15. März 1945
Erwin Blumenfeld: Dada in Amsterdam
Das rote Kreuz erschien als Cover der amerikanischen Vogue – am 15. März 1945. 1945? Ja, das letzte Kriegsjahr. Im Frühjahr wurde noch gekämpft, erst im Mai kapitulierte Deutschland, im September Japan. Die US-Truppen waren seit dem Angriff auf Pearl Harbor an allen Fronten dabei, in Europa, in Asien, im Pazifik. Poster mit einem den Finger ausstreckenden Uncle Sam warben mit dem Slogan „I want you!“. Und die Vogue titelte „Do your part for the Red Cross“. Natürlich ging es auch um Mode in jener Ausgabe, um „Spring Fashion“, aber hier fand mehr als eine direkte Reaktion auf den Krieg statt. Es ging um den Einsatz der Rot-Kreuz-Helferinnen bei der Betreuung von Verwundeten und den befreiten Häftlingen der Konzentrationslager. Eine gewagte Kombination aus politischem Geschehen und aktueller Mode: Ethisches Handeln als ästhetischer Trend. Der Künstler: Erwin Blumenfeld, deutsch-jüdischer Herkunft, selbst eine Zeitlang in französischen Lagern interniert, jetzt US-Bürger. In Berlin hatte er eine Lehre in einem Modegeschäft absolviert, in Amsterdam einen Laden für Lederwaren eröffnet. Unter dem Namen Jan Bloomfield macht er in seiner Freizeit skurrile Collagen (seine „Hitlerfresse“ wird später millionenfach als Flugblatt von amerikanischen Soldaten über Deutschland abgeworfen), ist Teil der Dada-Bewegung, fängt an zu fotografieren. In Paris kommt er in Kontakt mit den Surrealisten, arbeitet für Le Minotaure und Verve. Cecil Beaton vermittelt den Kollegen an die Vogue, Harper’s Bazaar nimmt ihn unter Vertrag. 1941 gelingt Erwin Blumenfeld die Flucht nach Amerika. Schon Ende der 1940er Jahre gilt er als der bestbezahlte Modefotograf der Welt.
Erwin Blumenfeld: Self-Portrait, 1947
Bei Erwin Blumenfeld wird Mode zur Kunst
Über 100 Cover schuf Erwin Blumenfeld, berühmt ist sein „Auge-& Mundbild“, auch ein Cover der Vogue, wie gemalt erscheinen Lippen- & Augenform, der Rest ist weiß, keine Kontur erkennbar. Eine andere Ikone ist das Foto von Audrey Hepburn, die sich im Spiegel vervielfacht, in bester expressionistischer Manier. Bewegung, Reduktion, Kreativität. Persönlichkeit als Konstrukt, Mode als Kunst. Erwin Blumenfeld probierte alles aus, was die Dunkelkammer hergab, von Solarisation bis Mehrfachbelichtung, Schattenwürfe, Aufnahmen durch Glas, Farbverfremdungen. Auch mit Worten jonglierte das Multitalent. Seine Autobiographie heißt „Einbildungsroman“, und in ihr stehen so lustige Sätze wie „Die Welt ist eine Geltungsbedürfnisanstalt“. Das Buch erscheint allerdings erst posthum. 1969 stirbt Erwin Blumenfeld in Rom. Für viele ist er noch heute ein Vorbild. So sagt etwa der zeitgenössische Modefotograf, der Norwege Solve Sundsbo:
Blumenfeld was shooting 60 years ago what the rest of us will be shooting in 10 years time.
Bei C/O Berlin hängt das „Rote Kreuz“ als erstes in der Sektion „Die Goldenen Jahre“. Das passt.
Ausstellung: Erwin Blumenfeld bei C/O Berlin
Ausstellung: „Zeitlos Schön – 100 Jahre Modefotografie von Man Ray bis Mario Testino“
C/O Berlin, bis 28. Oktober 2012
Oranienburger Strasse 35/36, Berlin
Nadine Barth stellt jede Woche eine Arbeit von Fotografie-Ikonen vor. Künstler, denen sie oft selbst begegnet ist. In der Serie bereits erschienen sind u.a. Künstler wie Arnold Newman, Dorothea Lange, Stephen Shore, Hiroshi Sugimoto, F.C. Gundlach, Philip-Lorca di Corcia, Barbara Klemm, Andreas Feininger, Joel Sternfeld, Herb Ritts und Diane Arbus.