© Barbara Klemm: Bruderkuss – Leonid Breschnew und Erich Honecker beim 30. Jahrestag der DDR, Ost-Berlin, 1979, Courtesy die Künstlerin
Was ist Wirklichkeit? Wie können wir uns ein Bild von ihr machen? Taugen Fotos (noch) zur Wahrheitsfindung? Kann man den Lauf der Geschichte durch Abbilder von ihr beeinflussen? Was ist Welt?
Es sind solche Fragen, die man sich stellt, wenn man Barbara Klemms Bilder sieht. Zeugnisse der Gegenwart, die zu Standbildern der Ewigkeit werden. Das politische Geschehen – manifestiert in Hundertstelsekunden.
Ich wollte immer eine Geschichte erzählen für die, die nicht dabei waren
sagt sie. Ein Medium des Verständnisses. Genutzt von einer, die dabei war. Die die Fähigkeit besitzt, in Sekundenschnelle zu sehen, zu entscheiden, den Auslöser zu drücken. Die komponiert, ohne zu inszenieren. Und so erzählt Barbara Klemm etwa die Geschichte, wie Willy Brandt bei den Ost-Gesprächen sehr nachdenklich, sehr konzentriert, in sich ruhend, ein Wissender, mit einem Leonid Breschnew und Beratern zusammensitzt, das Auge der Kamera ignoriert und so ein dichter Moment entsteht, eine Vorausschau für das, was kommen sollte und auch kam.
Bilder von Barbara Klemm für die Tiefdruckbeilage der FAZ
Barbara Klemm war immer mitten drin. Sie dokumentierte die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Prügelnde Polizisten. Einen Theodor W. Adorno, der unter Personenschutz mit Studenten spricht. Fettleibige NPD-Saalschützer. Das Sit-In mit Heinrich Böll gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen. 35 Jahre lang arbeitete sie für die FAZ. Vor allem in der Tiefdruckbeilage „Bilder und Zeiten“ wirkten ihre stark kontrastreichen Schwarz-Weiß-Fotos wie Hammerschläge des Authentischen. Sie fuhr durch die ganze Welt, nach Kalabrien, Kalkutta und durch den gesamten Ost-Block, lenkte den Blick auf die Poetik der Straße und die Momente des Schönen wie des Traurigen. Und immer wieder auf Gesichter. Gesichter von Unbekannten, Gesichter von Bekannten: Andy Warhol vor einem Gemälde, das Goethe auf seiner Italienreise zeigt. Herbert Wehner und Helmut Schmidt, Pfeife rauchend beim SPD-Parteitag. Barbara Klemm, geboren 1939 in Münster, ist Trägerin des Erich-Salomon-Preises, des Ordens „Pour le Mérite“ für Wissenschaften und Künste, und bekam erst kürzlich den Leica Hall of Fame Award verliehen.
©Barbara Klemm: Selbstportrait auf Documenta XII, Kassel, 2007, vor einer Harvey Keitel Projektion von James Coleman, Courtesy die Künstlerin
Barbara Klemm: Die ganze Szenerie des Bruderkusses
Der Bruderkuss ist eines von Barbarba Klemms bekanntesten Bildern. Es war beim 30. Jahrestag der DDR, die Wende war noch fern, die Länder des Ostens waren befreundet und stark. Kein Gorbi, kein Kohl, nur die Demonstration der Gleichheit. Da stand also die ganze Reihe der Parteibonzen nebeneinander, aufgereiht zur gefälligen Betrachtung, und Honecker und Breschnew gingen aufeinander zu, umarmten sich, küssten sich, ein uraltes Ritual der russisch-orthodoxen Kirche, zur gebräuchlichen Geste sozialistischer Staaten geworden, und natürlich ist der Augenblick der Lippenberührung derjenige, der festgehalten werden musste, die Essenz des Treffens. Diverse Fotografen waren zugegen, und es gab sogar einen, der ein so starkes Teleobjektiv dabei hatte, dass die beiden Köpfe sein Bild ausfüllten, doch Barbara Klemm fing die ganze Szenerie ein: Die Mikrophonständer im Vordergrund mit den nach rechts und links weisenden Doppelmikrophonen, der Halbkreis der applaudierenden Genossen, ein gelangweilter Konstantin Tschernenko (Stabsleiter im Büro Breschnew), der mit Andrei Gromyko (Außenminister der U.d.S.S.R.) tuschelt, die Holzverkleidung im Hintergrund, und auch die Kuss-Partner sind mit ihrem ganzen Körper zu sehen, ihre steifen Beine, Distanz wahrend, die leicht zueinander geneigten Oberkörper, der linke Arm von Honecker, der Breschnews Schulter umfasst, dadurch die Ordenreihe des großen Bruders am Revers verdeckt – man kann sich die Atmosphäre im Raum vorstellen, man meint den Teppich zu riechen und den Kampfergeruch des Rasierwassers, und vielleicht gibt es gleich Kaffee und Kuchen und man riecht das auch schon. Breschnew hatte den Abzug von 20.000 Soldaten und 1.000 Panzern angekündigt, aber das ist nicht weiter wichtig. Was bleibt als Information ist die Beschwörung einer Innigkeit, die es nicht mehr gibt und vielleicht auch nie gab, eine von der Wirklichkeit abgekoppelte Geste, ein frei flottierendes Bild, das seine Referenz höchstens in einem von der Fotografin selbst hergestellten Abzug hat.
Nadine Barth stellt jede Woche eine Arbeit von ausgewählten Fotografie-Ikonen vor. In der Serie bereits erschienen sind u.a. Künstler wie Arnold Newman, Dorothea Lange, Stephen Shore, Hiroshi Sugimoto, F.C. Gundlach, Philip-Lorca di Corcia und Andreas Feininger.