Foto: Dorothea Lange, Migrant Mother, 1936, ©Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-USF34-9058-C
Dorothea Lange: Die Geschichte des Fotos Migrant Mother
Es ist dicht, es ist nah, es berührt. Die Kinder haben sich abgewandt, vielleicht aus Scham, der Gesichtsausdruck der Mutter ist besorgt. Falten auf der Stirn, gegerbte Haut, die Hand an der Wange, die Mundwinkel leicht nach unten ziehend. Ihre Augen blicken zur Seite, blicken in die Ferne, die Zukunft, die Last, ein Morgen, wohin, Ungewissheit. Man sieht ein Stück Zeltplane, man versteht, hier hat jemand kein Zuhause.
Als das Foto erschien, am 11. März 1936, in der San Francisco News, trug es die Überschrift: „What does the ,New Deal’ mean to this mother and her children?“. Am Tag zuvor waren bereits zwei andere Aufnahmen aus der gleichen Serie erschienen und hatten das Elend der Wanderarbeiter veranschaulicht. Die Zeitungen im ganzen Land druckten das Bild nach, daraufhin veranlasste die Regierung Lebensmittellieferungen in die Region. „Migrant Mother“ wurde zum Zeitzeugnis der Großen Depression in den USA, ein ikonisches Werk. Für eine Ausstellung 1941 retuschierte die Fotografin den Daumen der Mutter aus der rechten unteren Ecke des Negativs.
1998 wählte es das U.S. Postal Service als Briefmarkenmotiv aus. Im gleichen Jahr wurde ein Vintage-Print (in der unretuschierten Form) mit anderen für knapp 300.000 Dollar versteigert. Der 35x27cm große Abzug hängt heute im J.Paul Getty Museum in Malibu.
Foto: Dorothea Lange mit ihrer Graflex Kamera auf einem Ford V8, fotografiert von Rondale Partidge für die Farm Security Administration, 1936, ©Library of Congress, Prints & Photographs Division, fsa.8b27245
Dorothea Lange: Die Geschichte der Fotografin
Dorothea Lange war auf dem Heimweg von einer sechswöchigen Exkursion. Sie arbeitete in der Zeit für die Farm Security Administration (FSA) und dokumentierte für die staatliche Organisation das ländliche Leben in den USA. Geboren 1895, von deutschstämmigen Einwandern der 2. Generation, hatte sie keine leichte Kindheit. Eine Polioerkrankung ließ sie zeitlebens ihr Bein nachziehen, die Eltern verboten ihr, Fotografin zu werden. Dorothea setzte sich durch, ging nach San Francisco, eröffnete ein Porträtstudio – mit Erfolg. Nach dem „Schwarze Donnerstag“ 1929 begann sie, die arbeitslosen Menschen bei Armenspeisungen zu fotografieren. Bei einer Ausstellung mit Fotos von streikenden Hafenarbeitern lernte sie ihren zweiten Mann kennen. Ein gemeinsamer Bericht über Migranten brachte die Regierung dazu, 20 Millionen Dollar für ein Hausprojekt zu bewilligen.
Als sie den U-Turn auf dem Highway 101 machte, um zu dem Camp der Erbsenpflücker zurückzufahren, dessen Schild sie gerade gesehen hatte, ahnte sie nicht, wie berühmt ihr Foto werden würde. Sechs Aufnahmen machte sie von der „Migrant Mother“ und ihren Kinden, zwei erst von weitem von dem Zelt, für die anderen vier ging sie immer näher an die Frau heran. Sie notierte dazu: „32, seven hungry children, father is native Californian.“ Und dass die Familie gerade die Reifen verkauft hätten, um Essen zu kaufen.
Foto: Dorothea Lange, Migrant Mother, 1936, ©Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-USZ62-58355
Dorothea Lange: Die Geschichte der Mutter
Die Sache mit den Reifen stimmt nicht. Sagt die Mutter. Man wusste lang nicht, wen das Foto zeigt. Auch die Fotografin hatte den Namen nicht notiert. Erst Ende der 1970er Jahre (da lebte Dorothea Lange schon nicht mehr), erzählte die Mutter einer Lokalzeitung ihre Geschichte: Florence Owens Thompson, geboren 1903, die Eltern Cherokee-Indianer, hatte das Bild gehasst. Ihre Kinder hatten es gehasst. Sie kannten ihre Mutter als fröhliche, mutige, liebenswerte Frau. Ja, sie hatten immer um ihre Überleben gekämpft, und, ja, sie hatten das Foto damals in der Zeitung gesehen. Aber sie hatten geglaubt, dass die Fotografin damit viel Geld verdient hätte (was nicht stimmt, weil die Aufnahme der FSA gehörte). 1983, als Florence Owens Thompson schwer an Krebs erkrankte, schaffte es das Foto zumindest, die hohen Betreuungskosten zu decken: Nach landesweiten Zeitungsberichten schickten Leute Geld, manchmal kleinste Summen, und schrieben dazu, wieviel ihnen die Aufnahme bedeutet hätte. Das sie ihnen Kraft gegeben hätte. Die größte Unterstützung kam aus der Gegend, in der das Foto entstanden war.
Foto hier und ganz oben: Dorothea Lange, Migrant Mother, 1936, ©Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-USZ62-58355
Fotografen Ikonen in der Kolumne zur zeitgenössischen Fotografie
Text: Nadine Barth
Nadine Barth stellt jeder Woche eine Arbeit von ausgewählten Fotografie-Ikonen vor. In der Serie bereits erschienen sind u.a. Künstler wie Arnold Newman, Stephen Shore und Philip-Lorca diCorcia