Diane Arbus: Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West 20th Street, N.Y.C., 1966, ©The Estate of Diane Arbus
Diane Arbus: Begegnung in Berlin
Wieder eines dieser Plakate. Ich nehme es im Vorbeigehen wahr. Nicke der Figur auf dem Plakat zu.
Ja, dich kenne ich, du rauchst noch immer so kapriziös, willst noch immer mehr vom Leben, willst die Grenzen erleben, die Freiheit deiner Persönlichkeit.
Dein Gesicht auf dem Plakat ist nah, fordernd, der Blick direkt, ohne Scheu und etwas provozierend, die Hand mit der Zigarette zur Seite geneigt, der Mund leicht geöffnet, ein männliches Gesicht, kantig, das Kinn langgezogen, die Stirn breit. Das Ungewöhnliche an dir sind deine Lockenwickler auf dem Kopf – und die schwarzen gemalten Augenbrauen – und die langen Fingernägel – Störfaktoren in der gängigen Porträt-Welt, der Eindimensionalität männlicher und weiblicher Darstellungsweisen, von der Antike bis heute. „Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West 20th street, New York City“ hat die Fotografin Diane Arbus dieses Porträt von dir genannt. Jetzt hängt es als Plakat im U-Bahn-Schacht in Berlin. Es riecht nach Staub, nach Schweiß, nach Eisen und Beton. Es riecht nach Großstadt. Das Plakat wirbt für die Retrospektive von Diane Arbus im Gropius-Bau.
Diane Arbus: Double Self Portrait with daughter Doon, 1945
Diane Arbus, die Grenzgängerin
Geschlechterrollen sind dazu da, dass man sie bricht. So man sie denn anerkennt. Laut der Theoretikerin Judith Butler ist das Geschlecht immer nur „konstruiert“ und Resultat unser gesellschaftlichen Prägung. Der junge Mann in einem Amerika der 1960er Jahre hat eine andere Sozialisation als ich, das ist klar. Diane Arbus, geboren 1923, hat eine andere Sozialisation als der junge Mann. Sie stammt aus einem russisch-jüdischen Haus. Sie hat wie ihre Geschwister ihr eigenes Kindermädchen. Sie erhält Zeichenunterricht. Heiratet gegen den Willen der Eltern den Kunstverkäufer Allan Arbus. Bekommt mit ihm zwei Kinder. Eröffnet mit ihm ein Fotostudio. Zusammen machen „the Arbs“ Modefotos für Condé Nast. Sie sind erfolgreich. Doch Diane Arbus reicht das nicht. Sie hat Depressionen. Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben. 1957 trennt sie sich von Allan und fängt an, freie Reportagen zu machen. Besucht ein Workshop bei dem berühmten Art Director Alexei Brodowitch (Harper’s Bazaar) und der ebenso berühmten Porträtfotografin Lisette Model:
Lisette befreite mich von meinen bürgerlich-puritanischen Vorurteilen. Fotografien, die Bewunderung verdienen, haben die Kraft aufzuschrecken.
Fortan schreckt Diane Arbus die puritanische Gesellschaft auf. Sie fotografiert Transvesiten. Nudisten. Prostitutierte. Behinderte. Artisten. Liliputaner. Sie entdeckt das Ungewöhnliche und macht es zum Vertrauten. Sie benennt den Schrecken und macht ihn zum Verbündeten.
Diane Arbus: Ihr Nachruhm wächst noch immer
1971 scheidet Diane Arbus freiwillig aus dem Leben. Da ist sie 48. Im gleichen Jahr wird ihr Werk in einer großen Schau im Museum of Modern Art gezeigt. 1972 ist sie die erste amerikanische Fotografin, deren Arbeit auf der Biennale in Venedig ausgestellt wird. Ihre Porträts – etwa die eineiigen Zwillingsmädchen, der Junge mit den Spielzeuggranaten, der Riese mit den winzig erscheinenden Eltern, die Domina mit ihrem Kunden, der Gesichtstätowierte, die zahlreichen Jahrmarktdarsteller – gehören zum Kanon der Fotografiegeschichte. Sie werden bewundert oder werden gehasst. Dazwischen gibt es nichts. Jeder Künstler kennt ihr Werk. Nan Goldin oder Wolfgang Tillmans nennen Diane Arbus ein wichtiges Vorbild. Der Mega-Bestseller „Aperture Monograph“ wird wieder und wieder aufgelegt, zuletzt 2011 zum 40-jährigen Jubiläum des Buches. Als die Ausstellung, die jetzt im Martin.Gropius-Bau zu sehen ist, in Paris Station machte, während der letzten Paris Photo, war ich mit der Fotografin Sarah Schönfeld da. Sie schaute sich jedes einzelne Bild an. Sog es förmlich in sich auf. Wir waren ewig im Jeu de Paume. Draußen schien die Sonne.
Ausstellung: „Diane Arbus – Retrospektive“
Martin-Gropius-Bau, bis 23. September 2012
Nadine Barth stellt jede Woche eine Arbeit von Fotografie-Ikonen vor, denen sie oft selbst begegnet ist. In der Serie bereits erschienen sind u.a. Künstler wie Arnold Newman, Dorothea Lange, Stephen Shore, Hiroshi Sugimoto, F.C. Gundlach, Philip-Lorca di Corcia, Barbara Klemm, Andreas Feininger, Joel Sternfeld und Herb Ritts.