Das Portal
In der neuen Netflix Psycho-Horror-Science Fiction Serie „Stranger Things“ gibt es eine andere Dimension, die „Upside-Down“ genannt wird. Ein und derselbe Ort aber auf einem anderen Existenz Level. Man kann es sich am besten wie ein Brettspiel z.b. Monopoly vorstellen. Auf der oberen Seite sind alle Felder auf denen man spielt und sich fortbewegt. Dreht man das Brett um hat man eine leere, meist schwarze Fläche. Beide existieren zur selben Zeit am selben Ort, haben aber unterschiedliche Regeln und Realitäten. Nur ein Portal kann beide miteinander verbinden. Chiharu Shiotas Installation „Uncertain Journey“ bei Blain|Southern fungiert genauso. Ein Portal das es uns ermöglicht im Äußeren zu sein, aber mit einer Verbindung zu einer anderen, inneren Ebene, die immer vorhanden ist, nur nicht immer für uns zugänglich.
Uncertain Journey
Lange bevor ich die Arbeit sehe fangen ihre Fäden schon an ihre Netze zu ziehen, getriggert durch den Titel der Ausstellung und der schier unendlich großen Symbolkraft. Meine Gedanken bilden ein eigenes Labyrinth, schwingen und breiten sich aus, innere Dialoge die mal Sinn ergeben, mal ins Leere laufen, bevor dann all diese Fäden tatsächlich vor mir visuell und mit einander verbunden im Raum schweben, als wir endlich atemlos und schwitzend an diesem heißen Herbsttag davor stehen. Ich dachte zum Beispiel an das Schild das es in der Nähe des Westhafens gibt, neben alten Industrie Bahngleisen gelegen, an dem ich oft vorbei radele. Ein Schild auf dem steht:
Von hier aus wurden Menschen ins Gas geschickt.
Explosion
Das wussten die Menschen damals nur nicht, sie wurden wie Vieh in Waggons geladen, eine Reise ins Ungewisse, dennoch eine Reise. Natürlich liegt auch der Gedanke an die Flüchtlinge nahe, wenn wir an „Uncertain Journey“ denken. Die in ihren Booten so oft kentern und dann im Meer ertrinken, bis die Strömung sie wieder an den Strand spült. Wie Bojen die auf einem Meer von Hoffnung treiben und schreien, wir haben es nicht geschafft! Unsere Reise ist hier zu Ende. Diese und ähnliche Gedanken kommen zu einem abrupten Halt nachdem wir dann tatsächlich vor der Installation stehen. Sie gleicht einer Explosion, aber eine die sich weich fließend ausbreitet.
Eine Explosion die sofort die Wahrnehmung infiltriert, sich ihren Weg durch das eigene System bahnt und und ausbreitet. Schiffe, Piraten, Blutbahnen, Zellen, Chromosome. Die Summe aller Einzelteile die gleichzeitig Außen & Innen bespielen.
Chiharu Shiota hat das Portal weit aufgestoßen.
Diese Eigenschaft die all ihren Arbeiten inne liegt, setzt sie klar ab. Eine Künstlerin die es schafft ihre Fäden zu einem Teil unserer eigenen Gedanken DNA werden zu lassen, die unsere Wahrnehmung geradezu vollpumpen, die schon anfangen in uns wirken bevor wir überhaupt mit der Arbeit „in Berührung“ gekommen sind. Ihr Netz ist gespannt.
物の哀れ mono no aware
Denn wir wissen um diese andere Realität, z.b. die des Flüchtlings, oder der Dinge und Realitäten die wir nicht sehen, obwohl sie da sind und existieren. Shiota hat uns daran erinnert das es immer diese zwei Seiten und Welten gibt. Eine Upside-Down World mit einer wilden Schönheit die schwindlig macht. Denn so fest verankert wie wir es gerne hätten, ist diese Welt schon lange nicht mehr und doch sind wir alle untrennbar und immer miteinander verbunden ob wir das wollen oder nicht.
Wir wissen um die Fragilität, lassen uns aber dennoch lieber in eine suggerierte Stabilität fallen.
Und so möchten wir uns auch in diese Installation hineinbegeben und wissen doch nicht wie wir in dieser anderen Dimension überleben könnten. Nah und fremd. Zum Glück gibt es im Japanischen Wörter, die in unserer Sprache gar nicht existieren und ganz bestimmte Zustände oder Gefühle beschreiben, wie 物の哀れ mono no aware.
Das bedeutet übersetzt auf japanisch „Das Pathos der Dinge“ oder auch „das Herzzerreißende der Dinge“ und beschreibt ein Gefühl von Traurigkeit und Gewahrsein, ob der Vergänglichkeit aller Dinge. Dieses Bewusstsein das sich mit der Vergänglichkeit aller Dinge abfindet.
Ein ästhetisches Prinzip, das vor allem diese Stimmung beschreibt und wie wir finden auch meisterhaft die ganze Bandbreite der von Chiharu Shiota´s geschaffenen Räume, in einem Universum, das seine eigene Zeit hat und Wahrheit hat.
Für uns die mit Abstand spannendste und wichtigste Arbeit auf der diesjährigen Berlin Art Week.
CHIHARU SHIOATA „UNCERTAIN JOURNEY“
Opening: September 16, 2016 – 6PM
September 17th till November 12th
Blain|Southern, Potsdamer Straße 77–87, 10785 Berlin
Photos by: Martin Peterdamm