Im Atelier von Chiharu Shiota
Das Atelier von Chiharu Shiota liegt ganz am Rande des Prenzlauer Berg, dort, wo das Viertel noch nicht ganz von den Szene-Lokalen überrollt ist. Natürlich kenne ich die Künstlerin von Fotos, aber als sie mir entgegenkommt, zweifele ich einen Moment. Eine sehr bescheiden und zurückhaltend wirkende junge Frau, die mich höflich fragt, ob ich etwa warten musste. Nichts weist darauf hin, das hier eine international gefeierte Künstlerin vor mir steht. Die Atelierwohnung im Hinterhaus ist winzig und wie in Japan üblich, müssen wir erst mal die Schuhe ausziehen und bekommen dann einen grünen Tee serviert, den die Künstlerin höchstpersönlich zubereitet.
Labyrinth der Erinnerung – wie eine Ausstellung von Chiharu Shiota entsteht
Im Mai wird auf dem Gelände von „La Sucrière“, einer alten Zuckerfabrik in Lyon, eine neue Ausstellung eröffnet. Als Chiharu Shiota ihr Skizzenbuch hervorzieht, wird klar, wie sie arbeitet. In die Pläne des Gebäudes sind mit einem Bleistift überdimensionale weisse Kleider, umsponnen von Wollfäden, eingezeichnet. Jede Installation wird bis ins Detail als Modell gezeichnet oder auch gebaut, und dann vor Ort realisiert. In diesem konkreten Fall werden 800 Kilometer Wolle verarbeitet, auch die Architektur des Gebäudes, Säulen und Pfeiler, werden dabei mit einbezogen.
Ich brauche so etwa zwei bis drei Wochen, um meine Arbeiten zu realisieren, das kommt natürlich auf die Grösse des Raumes an. Es macht mir Spass, zu reisen und zu arbeiten, ich mache das sehr gerne.
Das Kleid, ein wichtiges Motiv in den Arbeiten von Chiharu Shiota, symbolisiert die „zweite Haut“ eines Menschen, die Erinnerung, die Verbindung, die ein Mensch zu seiner Aussenwelt hat. Was Chiharu Shiota mit ihrer leisen Stimme zu erklären versucht, erreicht uns eher intuitiv, als rational. Genau so, wie auch die Künstlerin ihre Ideen entwickelt.
INSIDE – OUTSIDE 2009 (Hoffmann Collection, Berlin), Foto: Sunhi Mang
Die Geschichten, die ein Mensch zu erzählen hat, vor dem Vergessen bewahren
Die Idee zu meinen Fenster-Installationen hatte ich, als ich in den Abriss-Häusern in Berlin diese unzähligen Fensterrahmen sah. Da dachte ich, wieviele Menschen haben mal durch all diese Fenster geschaut, wieviele Geschichten haben sie erlebt. Und ich wollte nicht, dass man das wegwirft und einfach vergisst.
Auch die Installationen, in denen sie alte Schuhe benutzt, gehen in diese Richtung. Ein getragener Schuh erzählt vom Leben eines Menschen, von den Wegen, die er zurückgelegt hat. Und die Künstlerin will mit ihrer Vorstellungskraft spüren, sie will „sehen“, was diese Menschen bewegt hat.
Für die Performance „Over the Continents“ , bei der Schuhe mit roten Wollfäden verknüpft wurden, habe ich die Menschen gebeten, mir alte Schuhe mitzubringen und kleine Zettel hineinzulegen, auf denen sie eine Geschichte/Erinnerung aufschreiben, was sie mit dem Schuh erlebt haben. Das haben wir dann zum Teil vorgelesen. Viele Besucher haben die Zettel gelesen. So konnten wir uns gemeinsam erinnern.
OVER THE CONTINENTS 2008 (The National Museum of Art, Osaka), Foto: Sunhi Mang
In ihrem Arbeitszimmer steht ein winziges Paar rote Schuhe, in einem kleinen Rahmen. Auch sie werden irgendwann eingesponnen, es sind Schuhe ihrer kleinen Tochter. Und natürlich denkt man als Betrachter sofort an das, was man selbst gerne einspinnen, bewahren, erinnern, auch wegsperren würde. Vielleicht ist die Kunst von Chiharu Shiota so etwas wie ein Tagebuch der Gefühle, nicht nur ihrer eigenen. Ein Tagebuch ohne Worte.
Heimat ist für Chiharu Shiota ein imaginärer Ort
Für jemanden, der wie Chiharu Shiota zwischen zwei kulturell soweit voneinander entfernten Welten pendelt, ist Heimat nicht ein Land oder eine Stadt, sondern der Ort, wo das Herz ist. Für sie selbst ist Berlin mittlerweile ein Ort, an dem sie sich Zuhause fühlt. Aber es war ein weiter Weg bis dahin. In der Performance „Try and Go Home“ im Jahr 1998, sie lebte noch nicht lange in Berlin, kriecht sie nackt, schutzlos, mit Erde beschmiert, in eine Erdhöhle, wieder hinaus, wieder hinein.
Ich hatte damals Heimweh nach Japan, wollte zurück, aber dann doch wieder nicht. Ich fühlte, es zieht mich nach Japan, aber ich spürte auch, dass ich von dort weg wollte. Dieses Gefühl habe ich in dieser Performance ausgedrückt. Aber jetzt ist es gut, wenn ich von einer Reise nach Berlin komme, dann habe ich das Gefühl, ich bin wieder daheim.
Foto oben: Chiharu Shiota, In Silence, Biel, 2008. Foto: Foto: Sunhi Mang
Chiharu Shiota: Hin zum Leben, weg vom Tod
Wir machen noch ein paar Fotos draussen, an diesem strahlendem Frühlingstag. In der Schwedter Strasse, ziemlich genau da, wo früher das Niemandsland der Mauer war, blühen gerade die Kirschbäume in voller Pracht. Nach dem Mauerfall hatte die japanische Regierung diese Bäume der Stadt Berlin geschenkt, als Symbol für den Neubeginn. Vor einigen Jahren war Chiharu Shiota schwer krank, sie wurde wieder gesund, aber es hat sie verändert.
Nach der Krankheit habe ich mich mehr dem Leben zugewandt. Früher spielte der Tod eine grosse Rolle in meiner Kunst, heute ist das Leben viel wichtiger geworden. Das Bett zum Beispiel, das ich oft als Gegenstand benutze, war früher ein Symbol des Todes für mich, heute ist es ein Symbol für die Geburt.
Als wir gehen, haben wir das Gefühl, das Chiharu Shiota uns unheimlich viel erzählt hat. Über ihr Leben, über ihre Gefühle – aber auch über uns selbst. Obwohl sie kaum etwas gesagt hat! Aber das ist es wohl, was die Faszination dieser ungewöhnlichen Künstlerin ausmacht.
Text: Katrin Schirner
Fotos: Tatjana Bilger
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Foto ganz oben: Bühnenbild zur Oper “Matsukaze”, 2011. Foto: Sunhi Mang